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Zur Beschränkung der Macht

06. Februar 2019 | Couleur-Online, Politik
Zur Beschränkung der Macht

Betrachten wir die Demokratie aus der Nähe, so hat sie einen klaren Auftrag: Die Rechte des Einzelnen gegenüber der Staatsmacht zu wahren. Dafür bedarf sie allerdings einiger Voraussetzungen – und die sind nicht immer einfach zu erfüllen. Ein Gastbeitrag von Karl Habsburg-Lothringen (TEW).

„Das Wesen der demokratischen Staatsbeherrschungsform“, so Meyers Konversationslexikon im Jahr 1890, „besteht darin, dass die Staatsgewalt verfassungsmäßig der Gesamtheit der Staatsangehörigen zusteht.“ Der Brockhaus definiert in seiner 19. Auflage (1988) Demokratie als „die Staatsform, die in der klassischen Staatsformlehre … als Alternative zur Monarchie und zur Aristokratie gesehen wurde, heute jedoch vor allem als Gegensatz zur Diktatur begriffen wird.“ Betrachtet man den heutigen Zustand der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer, so war die klassische Staatsformlehre (nach der Brockhaus-Definition) wohl im Unrecht. Sieben der noch 28 EU-Staaten sind Monarchien (nach dem Brexit sind es nur mehr sechs von 27). Alle 28 (dann 27) sind Demokratien. Demokratische Strukturen sind eine Voraussetzung, um überhaupt in die Europäische Union aufgenommen zu werden.

Nicht immer hat man unter Demokratie das gleiche verstanden. Und wahrscheinlich ist das auch heute noch so. Das antike Athen gilt als Demokratie. Allerdings war das Wahlrecht auf eine bestimmte Gruppe von Bewohnern der Stadt beschränkt, Frauen hatten beispielsweise kein Wahlrecht. Heute geht man davon aus, dass Demokratie auf einem allgemeinen, freien und geheimen Wahlrecht beruht, das allerdings an die Staatsbürgerschaft gebunden ist, wobei es innerhalb der EU bereits Erweiterungen dieses Wahlrechts gibt. So können EU-Bürger auf lokaler Ebene auch dann wählen, wenn sie nicht Staatsbürger des Landes ihres Aufenthaltsortes sind.

Allerdings, und hier setzen auch Gegner der EU gerne an, wird das Prinzip des gleichen Wahlrechtes – one man one vote, also jeder hat eine Stimme die gleich viel wert ist – beispielsweise bei der Europawahl gebrochen. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in den Mitgliedsländern der EU gewählt. Bei der Verteilung der Sitze gibt es aber eine Gewichtung, die kleinere Länder bevorzugt. Die Stimme einer Luxemburgerin ist also mehr wert als die eines Deutschen. Im Vergleich zur Bevölkerung entsendet Luxemburg mehr Europaparlamentarier als Deutschland. Trotzdem wird man bei einer seriösen Betrachtung zu dem Ergebnis kommen, dass die Entscheidungen in der EU von demokratisch legitimierten Vertretern getroffen werden (unabhängig davon, ob man nun mit den einzelnen Entscheidungen einverstanden ist oder nicht).

Genaugenommen wird das Prinzip der einen Stimme pro Bürger auch in vielen Nationalstaaten wie der Republik Österreich gebrochen, weil Kinder (die Staatsbürger sind) keine Stimme bei einer Wahl haben. In der früheren Wahlordnung waren die Kinder durch Beachtung der Bevölkerungszahl in den Wahlkreisen noch irgendwie berücksichtigt. Das ist in der heutigen Wahlordnung nicht mehr der Fall, weshalb es auch immer wieder – aus Sicht des Autors zu Recht – Vorstöße für ein Kinder- oder Familienwahlrecht gibt, bei dem die Eltern pro Kind eine zusätzliche (ganze oder halbe) Stimme hätten. Bei den Pfarrgemeinderatswahlen gibt es eine solche halbe Zusatzstimme pro Kind.

Sieht man von den antiken Versionen der Demokratie in Athen oder Rom ab, so ist die heutige Version der europäischen Demokratie – die auch für die USA oder Australien und verschiedene Staaten auf den zwei weiteren Kontinenten gilt – auf das britische Vorbild zurückzuführen. Gewählte Vertreter des Volkes sollten für ein Gegengewicht zur Macht des Königs sorgen, um deren Ausdehnung über Untertanen in Grenzen zu halten. Eine Ausnahme auf dem europäischen Kontinent bildete die Schweiz, die auch heute noch basisdemokratische Elemente enthält. Kein Land kennt eine derart intensive Demokratie wie die Schweiz, wobei die oft geringe Wahlbeteiligung bei Volksabstimmungen zur Kenntnis genommen wird. Es gibt auch Beobachter, die meinen, eine geringe Wahlbeteiligung sei kein Problem, gerade die Schweiz zeige, dass dann nur die zur Abstimmung gehen, die sich mit der Materie auch vertraut gemacht haben. Damit kommen vernünftige Entscheidungen zustande. Ist ein Thema zu stark emotionalisiert, sodass die Wahlbeteiligung hoch ist, kämen oft schlechte Entscheidungen heraus, weil eben die Emotion und nicht die Vernunft ausschlaggebend ist.

Parlamentarische Demokratie im Sinne des englischen Vorbildes, auf dem die demokratischen Systeme Europas im Wesentlichen beruhen, ist also ein Instrument der Selbstbestimmung. Die Bürger wählen ihre Vertreter ins Parlament. Die Abgeordneten vertreten im Idealfall die Interessen ihrer Wähler. Die direkte Bindung zwischen Wählern und Abgeordneten ist bei einem Persönlichkeitswahlrecht wohl eher gegeben als bei einem Listenwahlrecht. Wird die Regierung vom Monarchen ernannt, so ist auch die Abgrenzung zwischen Regierung als Vertretung des Staates auf der einen, und Parlamentariern als Vertretung der Bürger auf der anderen Seite, wesentlich klarer. Die Steuerbelastung und die Regulierungsdichte waren in den europäischen Ländern lange Zeit auch sehr niedrig.

Einen Bruch mit dieser parlamentarisch-demokratischen Tradition gab es mit dem Zusammenbruch der großen Reiche als Folge des Ersten Weltkrieges. Sukzessive wuchs die Macht der Parteien. Die Regierungen werden nun als Folge der Parlamentswahlen von einer Parlamentsmehrheit demokratisch gewählt. Die Bindung zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit über die Partei und die Fraktion wird enger, der Gegensatz zwischen Parlament als Vertretung der Bürger und Regierung als Vertretung des Staates verschwindet.

Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich im freien Westen Europas schleichend die Ideologie des Wohlfahrtsstaates – ein politisches Konzept, um die Bürger, noch dazu mit ihrem eigenen Geld, vom Staat abhängig zu machen – fest. Mit Ausnahme der Schweiz liegt heute die Besteuerung im Schnitt in den europäischen Ländern oft deutlich über 40 Prozent. Das Konzept der Selbstbestimmung durch demokratische Wahlen wurde zu einem Konzept der begrenzten Mitbestimmung mit einer Mehrheitsentscheidung.

War also Demokratie ursprünglich noch untrennbar mit Freiheitsrechten verbunden, so hat es das demokratische System des Wohlfahrtsstaates geschafft, die Macht des Staates über die Bürger auszudehnen. Ausgehend von der Illusion, durch Umverteilung könne Reichtum geschaffen werden, wurden bei Wahlen regelmäßig jene Parteien belohnt, die mehr Wohltaten des Staates versprachen. Je mehr der Staat seinen Bürgern von deren Einkommen abnimmt, umso mehr schränkt er die Freiheitsrechte der Bürger ein. Jeder Euro eines erwirtschaften Einkommens, der bei den Bürgern bleibt, erhöht deren Verfügungsgewalt über eigenes Geld und damit den Grad der Freiheit. Je mehr Bürger im Gegenzug auf Transferleistungen des Staates angewiesen sind, umso mehr Bürger werden vom Staat abhängig, verlieren also Freiheitsrechte. Felix Somary beschreibt das in seinen 20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen mit dem fünften Gesetz: „Je größer und je vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk.“

Richtig verstandene Demokratie bleibt immer an das Recht und die Rechtsstaatlichkeit gebunden. Sie unterliegt damit Beschränkungen. Sie gibt den Bürgern die Möglichkeit über Wahlen eine politische Mitbestimmung auszuüben, sie gibt aber nicht der Mehrheit das Recht, Grund- und Freiheitsrechte einzuschränken. Sie beruht auch auf der klaren Entscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem. Sie ist ebenso an das Prinzip der Subsidiarität gebunden.

Subsidiarität, Freiheit und Selbstbestimmung sowie die damit zusammenhängende Verantwortung sind zentrale Elemente der europäischen Kultur und Identität. Dieser Grundsatz regelt auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Der Staat ist nicht Selbstzweck. Er ist für seine Bürger da. Er ist daher keineswegs Quelle des Rechts noch – wie heute allzu oft geglaubt wird – allmächtig. Seine Befugnisse sind durch die Rechte seiner Bürger beschränkt. Seine Aufgaben sind ihm durch das Subsidiaritätsprinzip angewiesen. Richtig verstanden darf er nur auf jenen Gebieten wirken, die sich der freien Initiative seiner Bürger entziehen.

Diese Grundsätze verlangen vom Bürger natürlich eine hohe Verantwortung bei Wahlentscheidungen. Würden demokratische Wahlen die Legitimation dazu liefern, diese Grundsätze auszuhebeln, würde der Staat zum totalen Staat und die Demokratie damit wohl abgeschafft, oder zumindest zu einer gelenkten Demokratie.

Insbesondere die aktuellen Diskussionen über liberale und illiberale Demokratie, über einen Gegensatz zwischen einem christdemokratischen Staat und einem liberalen Staat, vernebeln die Begriffe. Demokratie wird hier für einen Herrschaftsanspruch umgedeutet. Demokratie lebt aber von einem möglichen Wechsel der Herrschaft und muss unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der Parteien bleiben. So wie jedes Machtinstrument unterliegt sie damit der ständigen Herausforderung der Beschränkung der Macht.

Karl Habsburg-Lothringen (TEW)

(*1961) ist der älteste Sohn des letzten österreichischen Kronprinzen, Otto von Habsburg und seit 2007 Chef der Familie. Habsburg, der neben Geschichte auch Recht (LL.M.) und BWL (MBA) studierte, organisierte in den 1980ern regelmäßig Hilfskonvois in den damaligen Ostblock. Von 1996 – 1999 war er Mitglied des Europäischen Parlaments (ÖVP). Beruflich ist er heute als Medienunternehmer (Radiostationen u.A. in den Niederlanden und der Ukraine) sowie als Kulturgutschützer tätig. Er ist Präsident der Paneuropa-Bewegung Österreich und von Blue Shield International.

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